In einer Welt, in der schnelle Orientierung oft wichtiger scheint als differenziertes Verstehen, sind wir zunehmend versucht, Menschen einzuordnen: in Kategorien, Typen, Cluster. Auf den ersten Blick mag das zwar hilfreich sein, denn es reduziert Komplexität. Aber auf Dauer verliert man den Blick für den Menschen.
Individuell ist nicht falsch
Viele Menschen kommen in eine psychologische Begleitung mit dem Gefühl 'anders' zu sein: zu sensibel, zu sprunghaft, zu unsicher, konfliktscheu oder zu wenig belastbar. Dahinter steht oft eine Frage, bzw. ein tief verwurzelter Zweifel: Stimmt etwas nicht mit mir?
Die Antwort lautet meistens: Nein. Menschen unterscheiden sich. Und diese Unterschiede zu verstehen, ist oft ein erster Schritt zur Entlastung. Denn Persönlichkeit wirklich zu verstehen, und sie nicht nur als 'abweichend' wahrzunehmen, offenbart ganz eigene Stärken, Schutzmechanismen und Entwicklungspotential.
Diagnostik darf nicht vereinfachen, was komplex ist
In vielen standardisierten Diagnosesystemen geht es darum, Symptome zu beschreiben, zu quantifizieren und einzuordnen. Das hat seine Berechtigung, aber es darf nicht den Blick auf die individuelle Struktur verstellen, und einen Menschen auf ein Symptom reduzieren. Psychodynamische Perspektiven enthüllen mehr als nur eine Diagnose: Sie zeigen Motive, Konflikte und Bedürfnisse auf. Jemand, der sich zurückzieht ist nicht automatisch depressiv, wer laut wird nicht automatisch aggressiv. Persönlichkeit, Bewusstsein und Emotion bilden ein untrennbares Gefüge.
Psychologische Tiefe ist keine Typberatung. Fragen wie 'Was brauche ich?', 'Wovor versuche ich mich zu schützen?' oder 'Was wiederholt sich in meinem Leben, und warum?' lassen sich nicht in Online-Tests oder Coaching Sessions beantworten. Sie brauchen Zeit, Beziehung, Resonanz. Jenseits von Normen, Erwartungen und Zuschreibungen soll ein Raum für Selbstmitgefühl entstehen, in dem Menschen lernen, sich selbst in ihrer Unterschiedlichkeit ernst zu nehmen.
Keine Reparatur einer fehlerhaften Persönlichkeit
Was wir als Symptom erleben, ist immer auch Ausdruck einer Geschichte. Ständige Vergleiche mit anderen verleiten uns dazu, vorschnell zu bewerten und den Bezug zu uns selbst zu verlieren. Deswegen ist ein zentraler Aspekt meiner Arbeit, Menschen ein Verständnis für die eigene Persönlichkeitsstruktur zu ermöglichen. Denn erst, wenn ich mich nicht mehr gegen mein eigenes Erleben richten muss, kann ich mich darin orientieren. Vielleicht bin ich nicht 'zu wenig belastbar', sondern habe zu lange zu viel auf den Schultern getragen.
Nicht alle sind gleich – und das ist gut so.